Werksiedlungen in Brandenburg
Von der Wohnform des Industriezeitalters zum Zielort des Kreativtourismus
Von der Wohnform des Industriezeitalters
zum Zielort des Kreativtourismus
Werksiedlungen sind funktionale Gebäudegruppen, die den betriebswirtschaftlichen und technischen Bedarf ihrer Farbiken spiegeln. Sie lösten das Problem des Wohnungsmangels, der besonders in ländlich strukturierten Industriestandorten groß war. Die Zusammenschau von Leben und Arbeiten in einer Siedlung prägten Arbeitermilieus, in denen Arbeit und Freizeit fließend ineinander übergingen. Arbeitersiedlungen ermöglichten einerseits betriebliche Fürsorge, andererseits eine Disziplinierung durch den Arbeitgeber.
Ausgewählt für diese Ausstellung sind die Fabrikdörfer Marga, Lauta, Annahütte, Glashütte und die Schwartzkopff-Siedlung. Marga (ab 1907) und Lauta (ab 1917) sind Ausdruck der "Heimatschutzarchitektur" und vermitteln eine "moderate Moderne". Alle ausgewählten Beispiele, aber auch andere brandenburgische Siedlungen wie Peitz (ab dem 16. Jh.) oder Kirchmöser (ab 1919) sind wertvolle Denkmalensembles und hochwertige Wohnorte: Glashütte wandelte sich zum Kulturort; die Schwartzkopff-Siedlung ist heute ein Uni-Campus.
Werksiedlungen sind Ausdruck von Industriekultur in Brandenburg.
Marga
Eine Zechenkolonie in Brieske
Architekt: Georg Heinsius von Meyenburg, 1907
Denkmalschutz: seit 1985
Thementext: Marga
Das Foto von Gerhard Zwisckert zeigt einen Ausschnitt des Wohnhaus-Ensembles der Werksiedlung Marga bei Senftenberg in der Niederlausitz, die auch als Gartenstadt bezeichnet wird. Die nicht-lineare Anordnung der Gebäude, die einheitlich gestalteten Zäune mit behauenen Zaunpfosten aus Granit und die verschiedenen Dachtypen im "Landhausstil" vermitteln diese Ansicht. Die Torsituation ist angelehnt an Tordurchfahrten niederlausitzer Bauernhöfe. Hinter der Durchfahrt bildet sich ein weiterer Platz mit Gebäuden öffentlicher Funktionen. Nach dem Verfall der Siedlung Marga ab den 1960er-Jahren gelang der "Treuhand Liegenschaft GmbH" von 1998 bis 2000 eine vorbildliche Sanierung. Dennoch wurden manche in den "neuen Wohnungen" nicht heimisch.
Die Perle Marga
Der Lageplan (aus: Kil/Zwickert, Werksiedlungen) zeigt die Struktur der Marga-Siedlung, wie sie nach dem Entwurf von Georg Heinsius von Meyenburg ab 1907 realisiert wurde. Marga ist das lateinische Wort für Perle. Tatsächlich ist die gleichnamige denkmalgeschützte Bergarbeitersiedlung ein architektonisches Kleinod. 72 vielfältige Wohnhäuser boten Platz für die Beschäftigen der Ilse Bergbau AG. Der Architekt verzichtete bei deren Anordnung auf strenge Baufluchten. Neben den Wohnhäusern finden sich in „Marga“ eine Kirche, die Post, ein Ladengeschäft/Kaufhaus, eine Schule, ein Gasthaus sowie Remisen und Ställe, was durch die Autarkie der Werksiedlung begründet ist. Als ringförmige Insel liegt die Siedlung im Umland des Bergbaugebietes der Niederlausitz.
Seife gegen Kohlestaub
Die Seifenschale fand Verwendung in der Waschkaue der Grube Ilse, Marga. Die Schale wurde an Ketten in der Waschkaue hochgezogen bzw. abgelassen. Die Haken dienten zur Aufhängung für saubere und schmutzige Kleidung; jeder Bergmann hatte zwei Seifenschalen. Gleichwohl die Werksiedlung Marga durchaus einen Wohnfortschritt bedeutete, war die "Kolonie" nicht von Ruß verschont. Die Bergleute wuschen sich nicht zu Hause, sondern in der Waschkaue. Es gab einen Familienwaschtag am Samstag. Die Übergänge zwischen Wohnen und Arbeiten waren fließend. Die Brikettfabrik wurde 1992 stillgelegt und abgerissen.
Glashütte
Schönster Glasmacherort Deutschlands
Architekt: Solmssche Hüttenverwaltung, 1716-1945
Denkmalschutz: seit 1983
Glashütte II
Die Aufnahme von Gerhard Zwickert (2021) blickt aus dem Dachgeschoss eines Arbeiterhauses von Osten auf drei 1861 errichtete Arbeiterhäuser und ihre Stallgebäude. Am linken Bildrand sind die Glasfabrik („Neue Hütte“), die Schleiferei, die Einbindestube, die Packschuppen sowie der Fabrikgasthof zu erkennen. Im "weichen Betriebsmilieu" der Baruther Glashütte waren Arbeiten und Wohnen kaum voneinander abgegrenzt. Die Gebäude sind unter anderem in Erbpacht an Handwerker:innen und Händler:innen vermietet, die in Glashütte leben und arbeiten.
Fabrikort im Baruther Urstromtal
Die Werksiedlung der Baruther Glashütte verdient wegen ihrer Geschlossenheit die Bezeichnung „Schönstes Glasmacherdorf Deutschlands“.
Seit ihrer Gründung im Jahr 1716 entwickelte sich ein Ensemble von über 30 Gebäuden für die Glasherstellung, Verarbeitung und das Wohnen der Beschäftigten. In der Blütezeit von 1830 bis 1873 kamen im Fabrikviertel sechs weitere Arbeiterhäuser, ein Gasthaus und eine Kegelbahn hinzu. Am östlichen Ortsende entstanden eine Schule mit Betsaal und ein separates Arbeiterhaus. Wenngleich der Anlage keine strikte Planung zugrunde liegt, sind die Gebäudetypen und deren Ordnung durchaus vergleichbar mit einem Idealplan einer Glashüttensiedlung.
Zeitschichten einer Werksiedlung
Das Blechschild "Werkskantine Glashütte" ist nach der Sanierung in den 1990er-Jahren nicht wieder montiert worden. Die Übermalung dürfte mit der Umwandlung des Betriebes in einen VEB im Jahr 1946 erfolgt sein. Der Fabrikgasthof war der Mittelpunkt des Ortes. Er beherbergte auch einen Kolonialwarenladen und betrieb eine Kegelbahn.
Annahütte
Eine Glasarbeitersiedlung in der Niederlausitz
Planung: Heye-Konzern
Denkmalschutz: seit 1993
Thementext: Annahütte
Das Foto von Gerhard Zwickert (2003) zeigt einen Ausschnitt des Wohnhaus-Ensembles der Werksiedlung Annahütte (Glaswerkssiedlung und Kolonie Zeche Heye). Die evangelische Siedlungskirche (Henrietten-Kirche) im Hintergrund wurde 1905 im gotischen Formenkanon errichtet. Dagegen weisen die Arbeiterhäuser eine minimalistische Fassadengestaltung auf.
Frühe Arbeitersiedlung im Senftenberger Industriegebiet
Die Arbeiterkolonie Annahütte entstand auf Initiative des Glasfabrikanten Theodor Heye, der die seit 1870 bestehende gleichnamige, nach der Ehefrau des Gründers benannte Glasfabrik gekauft hatte. Für die Glasarbeiter, aber auch für Bergleute der Braunkohlen-Zeche sowie die Arbeiter der Heyeschen Brikettfabrik fanden sich in 38 Häusern 103 Wohnungen. Zur Siedlung gehörte ein Arzthaus, eine Post, eine Apotheke, eine Schule sowie ein Konsum-Verein. Beamtenhäuser stehen außerhalb der strengen Blockbebauung in graugelbem Klinker. Streng typisierte eingeschossige Zwei- und Vierfamilienhäuser stehen in den getrennten Bereichen der Glaswerksiedlung und der Zechenkolonie. Die Stilllegung des Glaswerkes im Jahr 1990 führte zu Abwanderung und Leerstand. Die Sanierung im Rahmen der Städtebauförderung hat zuletzt zu Zuzug geführt.
Bleikristall aus dem Kombinat Lausitzer Glas
Die Deckeldose aus Bleikristall steht für die Produktion der Annahütte. Die Dose ist tiefgeschliffen und formgeblasen. Die überladenen Schliffdekore eines typischen Produktes des VEB Annahütte (Kombinat Lausitzer Glas) kontrastieren mit den typisierten Arbeiterhäusern und ihrem reduzierten Bauschmuck.
Die enge Verbindung zwischen Glaswerk und Siedlung wird in einem Schreiben des Betriebsrates an Ministerpräsident Stolpe aus dem Jahr 1990 deutlich: „Im Interesse des Erhalts der [291] Arbeitsplätze bitten wir Sie, Herr Ministerpräsident Stolpe, bei der Treuhandanstalt, Niederlassung Cottbus, Ihren Einfluss geltend zu machen. Mit der Schließung des Unternehmens ist auch der Ort Annahütte gestorben.“
Die Fabrik wurde 1996 abgerissen.
Lauta
Weitläufige Werksiedlung
Architekt: Clemens & Stefan Simon
Denkmalschutz: um 1985
Lauta - Thementext
Das Bild zeigt die Anger Bebauung der Siedlung Lauta mit einem großen Arbeiterhaus mit Giebeldurchfahrt in der Flucht. Die Arbeiterhäuser entlang der Straße sind mit Giebeln, Gauben und Durchfahrten gegliedert. Ab 1917 entstehen in der Nähe des beschaulichen Dorfs Lauta bei Hoyerswerda unter staatlicher Regie die Vereinigten Aluminiumwerke AG (VAW) und eine großzügige Werkskolonie. Über vierhundert Wohneinheiten auf 35 Hektar machten Lauta-Nord zu einer der größten und bestausgestatteten Arbeitersiedlungen der Zeit. Zum Programm gehörten Ladenzeilen, ein Kino, eine Apotheke, eine Post und zwei Schulen. Zwei Kirchen und „das schönste Stadion der Niederlausitz“ ergänzten die Ausstattung.
Großsiedlung für Aluminiumarbeiter
Der Lageplan aus „Kil/Zwickert, Werksiedlungen“ lässt eine Schaufront von halbkreisförmig angeordneten Mehrfamilienhäusern an der Hauptstraße erkennen. Die Lauta-Siedlung öffnet sich entlang der Straßen in Wohnareale mit eigenen stadträumlichen Motiven. Blickachsen, Torbögen und Plätze bieten pittoreske Kompositionen, die in ihrer Vielfalt typisch städtisch gelten können. Wie in Marga weisen die Gebäude in Lauta mit unterschiedlichen Schmuckformen den Status ihrer Bewohner aus. Schaden erfuhr die Siedlung durch Bombardierung und Demontage. Auch die umfängliche Sanierung ab 1998 veränderte insbesondere durch Maßnahmen der Wärmedämmung die ursprüngliche Erscheinungsform.
Aluminium aus Lauta
Seit 1917 fertigte eine Fabrik in Lauta Aluminium. Der Standort wurde aufgrund der kriegswichtigen Bedeutung von Aluminium bewusst weit entfernt von der westlichen Front gewählt. Insbesondere im Flugzeug- und Zeppelinbau fand Aluminium Verwendung (siehe Lehrkasten). Der periphere Fabrikationsstandort gewährte wegen der Braunkohleverstromung die nötige Energie. Um sich von Bauxit-Importen unabhängig zu machen, stellte man Versuche mit regionalen Tonen als Rohstoff an. Im Zuge der Konsumgüterproduktion fertigte das Lautawerk u.a. auch Kochtöpfe.
Schwartzkopff-Siedlung
Metallarbeiter-Wohnungen in Wildau
Architekt: Ludwig Witthöft (1862-1937)
Denkmalschutz: 1993
Schwartzkopff-Siedlung: Thementext
Der Bildausschnitt des Fotos von Gerhard Zwickert (2021) zeigt einen Innenhof zwischen zwei Arbeiterhäusern der ersten Bauphase der Schwartzkopff-Siedlung um 1900. Die zweigeschossigen Arbeiterhäuser weisen jeweils vier als Risalit betonte Zugänge auf, die mit einem Ziergiebel bekrönt sind. Deutlich wird der gestalterische Bezug zwischen den Arbeiterhäusern und den Werkshallen der wenig älteren Maschinenfabrik jenseits der Schienen der "Görlitzer Bahn". Die Schwartzkopff-Siedlung ist ein bedeutendes Ensemble von Arbeiter- und Beamtenwohnhäusern der Berliner Maschinenbau Aktien-Gesellschaft, vormals L. Schwartzkopff. Architekt war Ludwig Witthöft (1862-1937), der ab 1900 auch als Betriebsleiter wirkte. Die Siedlung steht seit 1993 unter Denkmalstatus.
Wildau zwischen Bahndamm und Fluss
Die Schwartzkopff-Siedlung hat einen überregionalen Denkmalwert. Ihre langgestreckte Ausrichtung ist bedingt durch die Gleise der Berlin-Görlitzer bzw. die Dahme. Die zweigeschossigen Doppelhäuser der BMAG-Siedlung boten 820 Wohnungen. Jeder Wohnung war ein kleiner Hausgarten zugeordnet. Die Gliederung und Gestaltung der Häuser ist variantenreich. Im Erdgeschoss findet sich ziegelsichtiges rotes Mauerwerk. Die Obergeschosse sind verputzt und durch Klinker gegliedert sowie ornamentiert. Neben den Wohnhäusern gab es in der Siedlung Gebäude mit öffentlichen Funktionen wie die Kirche (Baujahr 1911) und das Casino mit Festsaal (Baujahr 1906). Zusammen mit einer Schule, einer Turnhalle, Einkaufsmöglichkeiten, einer Arztpraxis, einem Bootshaus und einem Postamt bildet die Schwartzkopff-Siedlung eine Stadt im Kleinen.
Standesgemäßer Zugang
Der Türbeschlag eines Arbeiterhauses der Schwartzkopff-Siedlung, Wildau ist abgestimmt mit den Architekturformen der Schwartzkopff-Siedlung; der Beschlag weißt florale eklektizistische Formelemente auf, die sich an den Jugendstil anlehnen. Die Restaurierung besorgte Fa. Wolfgang Hintze, Wildau. Die Sanierung der Wohnsiedlung begann zu Beginn der 1990er-Jahre. Die Wohnungen werden heute von der Wildauer Wohnungsbaugesellschaft vermietet. Durch die Ansiedlung der Technischen Hochschule Wildau im Werksgelände und einer Kita sind weitere öffentliche Nutzungen auf dem Schwartzkopff-Gelände entstanden.
Zwischen Utopie und Wirklichkeit
Hinter der Funktionalität einer Werksiedlung verbirgt sich die Utopie, mit Siedlungsplanung die Menschheit zu verbessern. Mehrere klassische politische Denker, Frühsozialisten, Lebensreformer, Städteplaner und mitunter Bewohner: innen waren und sind von dieser positiven Wirkung ihrer "Wohnkolonien" überzeugt. Werksiedlungen sind ein Phänomen der Moderne, das der Tendenz der "Verallgemeinderung" entgegensteht und den Prozess der "Valorisierung" im spätmodernen "Zeitalter der Singularitäten" vorwegnimmt.
Zuwanderung 2.0
Glashütte hat als Museumsdorf wieder Zuwanderung erfahren. Künstler: innen, Handwerker: innen, Museumsleute und Verkäufer: innen haben sich im Denkmalort angesiedelt und/ oder Arbeit gefunden. Durch sie wurde der Glasmacherort zu einem Ziel des Kreativtourismus. Die Glashütter Dorfgemeinschaft entwickelt derzeit ein Markenkonzept und stimmt sich monatlich am "Runden Tisch" ab.
Zwischen Verfall und Neuanfang
Seit etwa 1970 bis circa 1995 sahen sich Werksiedlungen, auch wenn sie denkmalgeschützt waren, dem Verfall preisgegeben. Die ansässigen Fabriken wurden nach 1990 im Falle von Annahütte, Lauta und Marga abgerissen und beraubtem die Werksiedlungen eines Teils ihrer Identität. Die Zeit der Verwahrlosung vermittelt das handgemalte Verbotsschild aus Glashütte. Auch das Straßenschild, das mutmaßlich aus Annahütte stammt, ist ein Symbol für Wandel und Demontage. Dagegen vermittelt die Grafik der Künstlerin Marie-Luise Faber den Prozess der kreativen Aneignung des industriekulturellen Erbes vor Ort. Die Grafikerin assemblierte historische Quellen aus dem Glashütter Betriebsarchiv oder überlagerte diese durch eigene Zeichnungen.
Rahmenprogramm
Präsenzausstellung
Ort: Glashütte, Baruth/Mark
Zeit: 16. Mai bis 15. August 2021
Danksagungen
Realisierung der Online-Ausstellung: Sarah Isensee, Freiwillige im Sozialen Jahr in der Kultur 2020/ 2021, mit Unterstützung des Museumsverband des Landes Brandenburg e. V.
Konzept der Ausstellung und Texte: Dr. Georg Goes
Dank auch an die Stadtstiftung Baruth/Mark und den Landkreis Teltow-Fläming sowie Leihgeber aus Lauta, Annahütte, Wildau, Marga und Senftenberg